Der Autor Andreas Marquardt, ein gebürtiger Neuköllner, war ein bekannter Karatekämpfer und Zuhälter und landete schließlich im Strafvollzug. Seine Autobiografie lässt sich charakterisieren als erzählendes Sachbuch. Es schildert seinen Weg über eine "problematische" Kindheit in die Gewalt. Der lapidare Titel könnte nicht besser gewählt sein - denn der Autor musste leidvoll erfahren, dass "Härte" nicht gleichbedeutend mit Stärke ist. Erst als es ihm im Rahmen einer therapeutischen Begleitung während seiner Haftzeit gelang, seine Vergangenheit (Kindesmissbrauch) aufzuarbeiten, konnte er verstehen lernen, dass seine "Härte" dazu diente, die Dämonen seiner Vergangenheit nieder zu halten. Los wurde er sie dadurch nicht.
(von Reiner Koll)
von Karin Kersten
suhrkamp taschenbuch
„Warum nur wirken Ihre Figuren immer wie in Aspik gegossen?“: Diese Frage richtet die Anleiterin einer Schreibwerkstatt an Karla Distelkamp. Die Hauptfigur in Karin Kerstens Roman „Die Aufgeregten Ein Großstadtroman“ hat weitreichende Ambitionen. Ihr Ziel ist, große Literatur, einen Roman über das Erinnern, zu verfassen. Bei einem Waldspaziergang weht ihr jedoch unerwarteterweise ein Geruch der Verwesung entgegen. Der Fund einer Leiche sowie ein finanzieller Engpass geben ihr Anlass, ihre literarischen Ansprüche zugunsten eines „Großen Groschenromans“ aufzugeben. Diese Handlung entspinnt sich in ausführlichen Reflexionen über die psychischen Zerrissenheiten der Karla Distelkamp sowie durch „ in Alltagsgewässern gründelnden“ Dialogen. Karin Kersten, die auch als Übersetzerin arbeitet, hat Texte von Virginia Woolf ins Deutsche übertragen. Ihre Schreibweise erinnert an die englische Schriftstellerin. Karin Kerstens Roman scheint jedoch konstruiert; Handlung und Gedanken der Romanfiguren sind nur wenig fassbar. Manche Sätze entschädigen die Leser jedoch für die Künstlichkeit. So beschreibt Kersten die „Verhaltenszwitter“ der Schriftstellerin in spe mit den Worten „Neugierig wie die Katze, panisch wie die Maus.“
(von Antonia G. Schui)
von Tanja Dückers
Aufbau TB Verlag
Von der Krakauer Dackelparade über die Faszination des letzten Papstes bis hin zur Reflexion der politischen Funktion von Literatur reicht die Spannbreite der Tanja Dückers-Textsammlung „Morgen nach Utopia“. In den Osteuropa-Reportagen werden sehr unterschiedliche Charaktere lebendig. Ein junger Deutscher, Aktivist für Lesben- und Schwulenrechte, hat sich trotz der Übermacht der so konservativen katholischen Kirche für das Leben in Krakau entschieden. Er erlebt Polen trotz Homophobie und Armut als „himmelblau-unschuldig“. Halina, eine der Welt zugewandte Studentin der Jagiellonen-Universität in Krakau, ist tief erschüttert über den Tod des Papstes. Dem aktuellen Berufswunsch ihres vierjährigen Sohnes er will statt Astronaut nun Papst werden begegnet sie mit großem Humor. Besonders die Texte über Polen und Rumänien zeichnen sich durch die Vertrautheit der Autorin mit Land und Leuten aus. Sie transportieren gleichzeitig das Staunen der Westeuropäerin über ihr Unbekanntes und ihren liebevoll-interessierten Blick. Sätze wie „Manchmal hat man in Bukarest das Gefühl, eine Zeitreise gleich in mehrere Vergangenheiten gleichzeitig zu machen.“ machen Lust auf Lesen und Reisen.
(von Antonia G. Schui)
von Henrike Heiland
Bastei Lübbe
Angler entdecken in der Warnow nahe der ehemaligen Neptunwerft die übel zugerichtete Leiche der Erzieherin Lena Sommer. Kommissar Erik Kemper und sein Team nehmen die Ermittlungen auf, kommen damit jedoch nicht so recht voran. Verstärkung naht in Form der Kriminalpsychologin Anne Wahlberg, die außer einem Doktortitel auch noch übersinnliche Fähigkeiten mitbringt. Kurz nach dem Dienstantritt der Profilerin wird Lena Sommers Tante ermordet aufgefunden, später noch ein Zeuge entführt. Bei ihren Recherchen geraten Kemper und Wahlberg tief in die deutsch-deutsche Geschichte, in Stasi-Machenschaften, Ost-West-Fluchten und Verrat. „Späte Rache“ ist der erste Teil einer in Rostock angesiedelten Krimi-Trilogie der Berliner Autorin Henrike Heiland. Der flüssig erzählte Plot kommt mit äußerst präzise skizzierten Charakteren und very british daher. Die barbarischen Morde erinnern an Minette Walters’ Fälle, der bräsig-kauzige Kemper an Ian Rankins Inspector John Rebus. Und das Team um Kemper und Wahlberg, die beiden ungleichen Protagonisten, könnte unauffällig in einen Roman von P. D. James geschmuggelt werden. Kurzum: Für alle, die spannende Krimis mit Lokalkolorit mögen, hat die Suche nach der perfekten Lektüre für den Ostsee-Urlaub ein Ende.
Wer die Autorin vorher live erleben möchte: Am 8. Juni um 19.30 Uhr liest sie in der Krimibuchhandlung Miss Marple (Weimarer Str. 17, 10625 Berlin) aus dem „Späte Rache“-Nachfolger „Zum Töten nah“; Eintritt: 5 €.
(von Maren Sauer)
von Matthias Keidtel
Rogner & Bernhard
352 Seiten - 15,90 €
„Holm mochte, wenn es bewölkt war, dann konnte man ihn aus dem All nicht beobachten.” So beginnt Matthias Keidtels Roman. Holms Odysee des Erwachsenwerdens startet in seinem 37. Lebensjahr, als ihn ein schwerer Schicksalsschlag ereilt: Holm wird von seinen Eltern auf die Straße gesetzt, findet aber sofort Unterschlupf bei Tante Hede, einer rüstigen 55-Jährigen. Holm ist ein Spätentwickler, leidet unter dem Ich-weiß-nicht-wohin-mit-mir-Syndrom. Nun aber, fast 20 Jahre nach dem ersten Besuch bei einem Psychologen, aufgerüttelt durch den ungeplanten Auszug aus dem Elternhaus, versteht Holm dessen Ratschlag. Er macht sich auf, sein Projekt EINLEBEN zu realisieren. Matthias Keidtel führt seine Figur durch alltägliche Handlungen an alltägliche Orte. Aber aus Holms Perspektive ist nichts alltäglich, da wird schon das Einkaufen zum Abenteuer. Er steht sich selbst im Weg, und seine eigentümliche Sicht auf die Dinge erschwert ihm das Dasein. „Ein Mann wie Holm” ist eine glänzende Komödie, in einer witzigen, frischen Sprache erzählt und voller ungewöhnlicher Einfälle. Im Gegensatz zu Holm sprüht Matthias Keidtel vor Ideen und hinterlässt den Leser mit einem Dauerschmunzeln.
(von Connie Roters)
von Sebastian Fitzek
Sie mögen gemächlich erzählte Krimis mit einer durchsichtig konstruierten Handlung? Sie hassen es, beim Rätseln, wer weshalb mit wem gemeinsame Sache machen oder ein falsches Spiel spielen könnte, auf die falsche Fährte gelockt zu werden? Dann lassen Sie um Himmels Willen die Finger von Sebastian Fitzeks Psychothriller „Amokspiel”! Denn der kommt von der ersten bis zur letzten Seite mit einem rasanten Tempo, intelligent gesponnenen, raffiniert verwobenen Erzählsträngen und furiosen Wendungen daher.
(von Maren Sauer)
von Mila Lippke
Berlin, Ende des 19. Jahrhunderts. Die Eltern von Cecilie haben sehr konkrete Pläne für die Zukunft ihrer Tochter: An der Seite des Baron zu Staufenfels soll sie Privilegien genießen, die Nicht-Adeligen verwehrt bleiben. Doch die eigenwillige junge Frau hat ganz andere, mit der damaligen Zeit schier unvereinbare Träume. Statt einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebt, möchte sie lieber Medizin studieren. Kurz nach der Verlobung bricht Cecilie Blum aus dem familiären Korsett aus und landet in einer für sie bis dato unbekannten Welt. Um für ihren Lebensunterhalt sorgen zu können, nimmt sie eine Stelle als Putzfrau im Leichenkeller der Berliner Morgue an. Dort hat Gerichtsmediziner Hektor von Thorwald gerade mit der Aufklärung einer Serie grotesker Frauenmorde zu tun: Wie Puppen ausstaffiert - mit Glasaugen in den Augenhöhlen, mit ausgeweideten und mit Stroh ausgestopften Leibern, mit kahlgeschorenen und mit Perücken versehenen Köpfen - landen die Opfer auf seinem Seziertisch. Cecilie belässt es nicht bei ihrem Putzjob, sondern beginnt eigene Ermittlungen. Doch gehört und wirklich ernst genommen wird das, was sie herausfindet, nicht.
(von Maren Sauer)
von Tobias O. Meißner
Eichborn Berlin
411 Seiten - 24,90 Euro
Macht Gott gemeinsame Sache mit dem Teufel? Gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen Gott und Teufel? Was ist gut, was ist ethisch korrekt? Darf man einen Menschen töten um der Guten Sache willen? Und wenn ja, was ist gut? Mit solchen Fragen wird Hiob, der Protagonist des Buches, immer wieder konfrontiert. Doch solche Überlegungen treten für Hiob schnell in den Hintergrund, wenn er als „Spieler” Punkte sammeln will im Kampf gegen ein metaphysisches Wesen. Die Episoden dieses Kampfes werden von Tobias O. Meißner keineswegs philosophisch abgehoben geschildert. Da geht es handfest zur Sache: Liebe, Freundschaft, Gewalt, Sex, eben das, was uns Menschen bewegt, werden spannend und amüsant in einer bildreichen Sprache geschildert. Fiktion wird geschickt mit Realität verwebt. Da wird eine Fahrt im Nachtbus der BVG zu einer Geisterfahrt durch die Yorckstraße. Neben Orten wie Japan, Sardinien oder London ist Berlin - im Buch auch „Dogshit City“ genannt - der Hauptschauplatz in Hiobs Spiel. Der Ausgang des Spiels bleibt offen, was aber kein Manko ist, denn Lesespaß und Anregung zu eigenen Gedanken über „Gott und die Welt” wird reichlich geboten. Hinzu kommt die Freude für´s Auge des Bibliophilen: Die Kapitel sind in unterschiedlichen Schrifttypen gesetzt und immer wieder mit Grafiken gespickt. Fazit: Ein außergewöhnliches Buch.
(von Ralf Tober)
„Der beste Roman des letzten Jahrzehnts“ urteilte die Zeitschrift „Stern“. Und auch mich bewegte dieses Buch viele Monate bis ich die 768 Seiten gelesen hatte - und es war keine einzige Seite zu viel. Erzählt wird die Geschichte einer Familie mit zwei Hautfarben, beginnend in den 1940er Jahren in den USA: Eines aus Nazi-Deutschland geflohenen jüdischen Physikers und einer afro-amerikanischen Musikstudentin. Sie heiraten in New York, in vielen Bundesstaaten wäre ihre Ehe noch ein Verbrechen. Sie, und später auch ihre drei Kinder, hoffen auf die Zukunft, träumen den amerikanischen Traum von Freiheit und Gleichheit. Sie leben aber in einer rassistischen Umwelt. Kraft und Trost und Selbstbewusstsein erleben sie im gemeinsamen Singen, in der Musik. Nur die Tochter entscheidet sich dafür, dass ihr persönliches Glück untrennbar mit dem Kampf für Gleichberechtigung ihrer Rasse verbunden ist, und schließt sich den „Black Panthers“ an. Bei aller Parteinahme für eine echte Demokratie betreibt der Autor niemals platte Schwarz-Weiß-Malerei: Alle Romanfiguren sind echte Menschen, mit tausenden Facetten, Vorlieben, Begabungen, Schwächen, Tragik und Humor, ihrer ganz eigenen unvorhersehbaren und doch nur so verlaufenden Lebensgeschichte. Am Ende des Buches wundert man sich, warum man sie nicht anrufen, sich mit ihnen - soweit sie überlebt haben - zum Konzert verabreden kann. Richard Powers ist ein großartiger Erzähler und ist zum Glück genauso großartig übersetzt. Jeder Satz ist ein Gedicht. Kein Buch, dass man mal so abends, schon todmüde, kurz vorm Einschlafen, lesen kann. Aber eines, das mich nicht losgelassen hat, denn es ist trotz allem eine Liebeserklärung an die Musik und an das Leben.
(von Ulrike Evers-Peiser)
Eine bizarre Mordserie erschüttert Berlin, und jeder könnte das nächste Opfer sein. Denn der Täter sucht sie scheinbar wahllos aus, um sie kaltblütig hinzurichten und mit kleinen Zetteln zu versehen, auf denen das Motiv vermerkt ist. Kriminalhauptkommissar Kai Nabel und seine Mitarbeiter stehen vor einem Rätsel: Haben Sie es mit einem durchgedrehten Serienmörder zu tun oder womöglich mit mehreren Tätern? Der raffiniert angelegte Plot von Titus Kellers Debüt-Krimi „Aussortiert“ steckt voller Überraschungen und furioser Wendungen. Dass einige Charaktere eher blass bleiben, verzeiht man dem Autor gerne, zumal seine Milieustudien umso präziser und packender skizziert sind. Und auch über die wahrlich eher unoriginelle Idee, dass Neukölln gleich zweimal auf der Liste der Tatorte steht, ärgert man sich nicht lange. Schließlich beweist Titus Keller seine Lust, Klischees zu brechen, schon hinreichend damit, dass er seinen Protagonisten mitten in Nord-Neukölln wohnen lässt, mit Blick auf den Körnerpark.
(von Maren Sauer)
Niodior, eine Insel vor der Küste Senegals, ist der Schauplatz des ersten Romans von Fatou Diome. Die Schriftstellerin, die in der Erzählung den Namen Salie trägt, ist hier als uneheliches und verachtetes Kind aufgewachsen. Eine kurze Ehe mit einem Franzosen führt Salie nach Straßburg. Madicke, der Bruder der Ich-Erzählerin, träumt von Frankreich und einer Zukunft als Fußballstar. Salie will den Jüngeren vor einem Leben als illegaler Arbeiter bewahren. Sie selbst finanziert sich durch Putzjobs und lebt in ihren Gedanken und Gefühlen zwischen Europa und Afrika. Auf der Suche nach dem Glück ist Salie auch auf die Grenzen beider Gesellschaften gestoßen. Zuflucht findet sie in ihrem Schreiben, das beide Kontinente verbindet.
In Fatou Diomes Erzählung werden Salies Vergangenheit und Gegenwart lebendig. Metaphern und intensive Bilder lassen ein Kaleidoskop der Bewohner des Fischerdorfs Niodiors entstehen.
(von Antonia G. Schui)
„Dies ist keine Leidensgeschichte. Meine Geschichte ist keine Leidensgeschichte, nur meine.“ Das stimmt und doch wieder nicht. Denn Kirsten Fuchs erzählt in ihrem Debüt-Roman nicht nur die Geschichte der jungen Sozialhilfeempfängerin Tanja, sondern die von Peter Berg gleich mit. Berg ist etwa doppelt so alt wie Tanja und Sozialamt-Sachbearbeiter. Einer, dessen einziger Muskel der Zynikus ist, der sein „Mitleid verbummelt“ und ein Gesicht hat, das sich „gut vergisst“. Doch für Tanja steht sofort fest: Den will ich! Wie sie ihn kriegt und er sich kriegen lässt, sie sich annähern und miteinander kollidieren, erzählen beide wechselseitig in Ich-Form. Dass die Passagen durch verschiedene Schrifttypen kenntlich gemacht sind, erleichtert die Orientierung ungemein, da sich die Protagonisten in ihrem deftig-schnörkellosen, bildhaften Erzählstil oft nur undeutlich voneinander unterscheiden. Lesenswert ist Kirsten Fuchs’ Roman jedoch allemal. Insbesondere für alle, die Sätze wie diesen mögen: „Katrin lässt den Satz hinten offen, da fällt der Sinn raus, und mir fällt es schwer zuzuhören.“
(von Maren Sauer)